Wie ihr alle wisst, feiern wir heute das 100-jährige Jubiläum des Beilsteinschlosses und das 50-jährige Jubiläum des Hauses der Kinderkirche. Was ihr allerdings nicht wisst, ist, wer die wahren Herrscher dieses Gebäudes sind. Die wahren Herrscher auf dem Schloss Beilstein, das sind seit nunmehr 100 Jahren die Stinkbockkäfer.

Beilstein gilt als zentrale Anlaufstelle dieser putzigen kleinen Käfer. Wer noch nie einen Stinkbockkäfer gesehen hat, der muss nur einmal im Frühjahr ins Haus der Kinderkirche kommen. Dann kann er Scharen von ihnen hier in diesen Mauern antreffen. Jedes Frühjahr feiern diese possierlichen kleinen Tierchen hier ihre Jahreshauptversammlung. Stinkbockkäfer besitzen eine dunkelbraune Färbung und einen recht flachen Körperbau. Ein bisschen sehen sie aus wie Maikäfer, sind jedoch etwas kleiner. Wenn sie sich bedroht fühlen, dann können sie mit einem Sekret spritzen, das ziemlich stinkt. Daher kommt auch der huldvolle Name Stinkbockkäfer. Manche Menschen behaupten, dieses Sekret rieche ein bisschen nach Marzipan, nur viel unangenehmer. Ob es auch nach Marzipan schmeckt, konnte mir noch niemand verraten. Diese Stinkbockkäfer bezogen also vor genau einhundert Jahren das Schloss Beilstein. Glaubt man Gerüchten, dann haben sie bereits bei der Planung der vielen Ritzen und Fugen mitgewirkt. Dort halten sie sich nämlich am liebsten versteckt. Die Stinkbockkäfer lebten gemütlich in diesen Mauern vor sich hin, vermehrten sich und bevölkerten emsig die Ritzen der Decken und Dielen. Sie lebten die ersten Jahre friedlich mit den Menschen zusammen und wunderten sich nur über deren Geschmack, wenn mal wieder Bilder mit unproportionierten Damen oder mürrischen alten Herren aufgehängt wurden. Ja, die Stinkbockkäfer genossen die Ruhe und die Abgeschiedenheit des Schlosses Beilstein, wo sie ungestört fliegen, krabbeln und sich behaglich auf den Schlossmauern sonnen konnten. Doch dann änderte sich das Leben dieser emsigen Käferchen schlagartig. Nachdem sie fünfzig Jahre die Stille und den Frieden dieser Mauern genossen hatten, wechselte das Haus seinen Besitzer. Plötzlich stürmten Scharen von johlenden und lachenden Kinderkirchmitarbeitern durch die Gänge und hielten wilde Grundkurse und Freizeiten ab. Die morschen Treppen hörten gar nicht mehr auf zu knarzen, nicht einmal mehr nachts. Die neuen Gäste des Schlosses waren widerlich fröhlich und sangen schräge und laute Weisen, vor denen man sich nicht einmal mehr in den abgelegensten Ritzen schützen konnte. Die Stinkbockkäfer fühlten sich wie auf einem Rummelplatz. Gitarrenklänge ließen die Gehörgänge der empfindsamen Tierchen vibrieren, und Bewegungslieder erschütterten ganze Stockwerke, sodass die Stinkbockkäferbabys beim Mittagsschlaf aus ihren Bettchen fielen. Neben die seltsamen Gemälde von alten Damen und Herren wurden noch seltsamere Strichzeichnungen, Ausreißbilder und Basteleien gehängt, über die sich die Kursleiterinnen und Kursleiter mit einer erstaunlichen Begeisterung äußerten. “Oh, wie schön”, sagten sie, “das ist ja Noahs Arche.” Doch selbst die gebildetsten Stinkbockkäfer hatten Mühe, in dem ausgerissenen und aufgeklebten Papierklecks mehr als einen schiefen Kartoffelknödel zu erkennen.  Die Stinkbockkäfer litten schrecklich unter der Unruhe und der umtriebigen Heiterkeit der neuen Schlossgäste. Nur eines gab es, was sie mochten. Das aber mochten sie sehr. Mittags versammelten sich die Stinkbockkäfer in den Ritzen des großen Saales und lauschten den biblischen Geschichten, die die Kinderkirchmitarbeiter sich erzählten. Da gab es wirklich was zu erleben. Von Brot, das sich wundersam vermehrte, war da zu hören, oder von Königen, die auf Eseln ritten. Von einer bösen Schlange und von einem guten Hirten. Und einige der Kinderkirchmitarbeiter konnten so toll erzählen, dass man den Wüstenwind spüren, die Löwen riechen, die Lammkeule schmecken, die Farben der Bäume sehen und die Posaunen hören konnte. Bei manchen Erzählungen wurden die Figuren lebendig, viel lebendiger, als es sich die Erzähler selbst hätten ausmalen können.

Doch wenn die Stinkbockkäfer dachten, jetzt würde es wieder ruhiger werden, so sahen sie sich getäuscht. Wieder hatte die Stinkbockkäferschar in ihren Ritzen und Fugen einer Geschichte gelauscht. Offensichtlich handelte es sich um eine Fortsetzungsgeschichte, denn es ging darum, das ein Widerborst, der einen Auftrag von Gott nicht erfüllen wollte, von einem Fisch verschluckt wurde. Die Geschichte war spannend und die Stinkbockkäfer freuten sich bereits auf den nächsten Abend, wenn sie erfahren würden, wie sie zu Ende ginge. Nur Lisa wusste schon, wie sie endete, aber sie verriet es nicht. Jetzt machten es sich die Stinkbockkäfer aber erst einmal gemütlich für die Nachtruhe, und sie kuschelten sich in den feinen Staub der Fußbodenfugen. Hannibal hatte bereits die Augen geschlossen, da fühlte er, wie seine Flügel feucht wurden. Er fuhr aus seinem Lager hoch und schrie so laut er konnte: “Wasser!!” Denn nichts ist für die Stinkbockkäfer gefährlicher als Wasser, das in die Ritzen dringt. Alle Stinkbockkäfer fuhren hoch und krochen mühselig aus den Ritzen und Fugen, in denen sich das Wasser bereits zu stauen begann. Nach Luft hechelnd flogen sie dann im Saal eine Runde, um die Flügel zu trocknen. “Woher kommt das Wasser?”, fragte Dietmar, ein Stinkbockkäferjunge außer Atem. “Von hier”, rief Fred von der Stirnseite des Saales herüber. Alle flogen zu ihm hin. Da sahen sie es auch. Fred flatterte neben einer Buntstiftzeichnung, die ein großes Meer zeigte, worin ein riesiger Fisch schwamm. Im Bauch des Fisches sprang ein wütender Mann auf und ab und schlug seine Fäuste immer wieder in die Rippen des Fisches. “Ich will hier raus! Ich will nicht nach Ninive!”, schrie er mit hochrotem Kopf. Der Kopf war mit groben Buntstiftstrichen gezeichnet und eigentlich viel zu groß für den spinndeldürren, rotschraffierten Körper des Mannes. Durch die heftigen Bewegungen, die der Mann mit seinen Schlägen gegen den Fischbauch verursachte, schwappte immer wieder Wasser aus der Oberkante des Blattes heraus, und floss in einem Rinnsal die Wand hinunter, bis es sich unten in die Fußbodenritzen verteilte. “Willst du wohl still sein!”, brummelte der Fisch wütend. “Raus will ich. Bring mich sofort zurück. Ich will nicht nach Ninive.” “Das wird mir zu blöd”, sagte der Fisch und spuckte das strampelnde Strichmännchen aus seinem dunkelblau gezeichneten Maul. In hohem Bogen flog der Mann aus dem Bild und landete in der Wasserlache auf dem Fußboden, die er selbst verursacht hatte. Sofort flogen die Stinkbockkäfer in einem wütend surrenden Schwarm auf den Mann zu. “Willst du uns umbringen?”, fragte ein erregt flatternder Hannibal. “Ich will zurück nach Hause”, sagte der Mann, der seine Stricharme beleidigt vor der Brust verschränkte. Er war nicht viel größer als die Stinkbockkäfer und sah etwas unbeholfen aus mit seinen zu lang geratenen Armen und seinen kugelrunden gelben Händen. Lisa flog zu ihm hin. “Jona”, sagte sie, denn sie war die einzige, die sich noch an seinen Namen erinnern konnte. Stinkbockkäfer sind wirklich sehr vergesslich. “Jona, wir verstehen ja, dass du nicht nach Ninive willst. Dort gibt es viele böse Menschen, und es ist gefährlich, Gottes Nachricht an sie weiterzugeben.” “Warum musste Gott mich aussuchen?” “Das hab ich mich auch schon gefragt”, grummelte Fred. Doch Lisa überhörte seinen Kommentar. “Du wirst das schaffen”, sagte sie. “Du musst das schaffen. Wenn du bis morgen nicht wieder in der Geschichte bist, sondern immer noch hier rumsitzt, dann müssen in Ninive ganz viele Tiere und Menschen sterben. Auch Stinkbockkäfer.” Jona schaute verdutzt von einem Stinkbockkäfer zum anderen. Er wusste nicht so recht, was er von ihnen halten sollte. “Okay”, sagte er, “vielleicht muss ich nach Ninive.” Dann senkte er seine Augen, bevor er weitersprach. “Aber ich hab Angst. Angst vor den bösen Männern.” Betretenes Schweigen breitete sich im Saal aus. Lisa schaute verzweifelt zu Hugo. Der hatte immer die besten Ideen. Und Hugo strengte sich beim Nachdenken sichtbar an. Er wollte Lisa imponieren. Und tatsächlich kam ihm eine Idee. Er war mächtig stolz auf sich. Überlegen lächelnd blickte er in die Runde. Alle Stinkbockkäfer und auch Jona starrten auf seinen Kiefer und erwarteten die weisen Worte. “Jona”, sagte er und legte eine kurze Pause ein, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. “Wir geben dir das beste Schutzmittel mit, das es gibt. Wir geben dir von unserem stinkenden Stinkbockkäfersekret mit. Damit schmierst du dich ein, bevor du vor die Menge trittst. Keiner wird es wagen, dir zu nahe zu kommen.” Voller Hochachtung applaudierten die Stinkbockkäfer dem Vorschlag. Nur Jona wippte noch etwas unschlüssig mit dem Kopf. “Einverstanden”, sagte er schließlich, “so machen wir es.” Es dauerte noch eine Weile, bis die Stinkbockkäfer den Fisch dazu überredet hatten, Jona wieder zu verschlucken, aber dann war das Strichmännchen schlussendlich dort, wo es hingehörte. Am nächsten Tag lauschten die Stinkbockkäfer gespannt den Erzählungen der Kursteilnehmer. Allerdings erwähnte nur ein offenbar sehr feinfühliges und intelligentes Mädchen, dass es in den Gassen von Ninive nach Marzipan roch, nachdem Jona Gottes Nachricht überbracht hatte. Die Stinkbockkäfer jedenfalls waren erleichtert über die Rettung Ninives und lebten von diesem Tage an glücklich und zufrieden, bis zu dem aufregenden Tag, als der Kammerjäger kam. Aber das ist eine andere Geschichte.

Christoph Fischer (erzählt beim 50-jährigen Jubiläum des Hauses der Kinderkirche)

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